Hugo Leichtentritt to Ferruccio Busoni arrow_back

Berlin · November 18, 1923

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Mus.ep. H. Leichtentritt 15 (Busoni-Nachl. B II)
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2772
Dr. Hugo Leichtentritt
z. Zt. Amsterdam
[…] at least 3 char: cancelled. Mai 1920
Berlin den 18. Novemb.
192
3. Über das hier verwendete personalisierte Briefpapier mit Amsterdamer Adressvordruck verfügte Leichtentritt noch von seiner Einladung zum Mahler-Fest anlässlich des 25. Jubiläums von Willem Mengelberg beim Concertgebouw-Orchester (6.–21. Mai 1920); vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 360 f.

Lieber und verehrter Meister und Freund!

Seit vier Wochen ungefähr höre ich ohne Variationen die nämliche Melodie,
daß Sie unmittelbar vor Ihrer Rückkehr nach Berlin sind. Busoni war mit seiner Frau Gerda zu Erholungszwecken für sechs Wochen nach Paris gereist, hatte aber auch dort viel für eine anstehende Konzertreise in Finnland geübt (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 52). Jeden dritten Tag
fürchtete ich mit einem etwaigen Brief nach Paris zu spät zu kommen. Ich hätte
aber doch riskieren sollen, in den Quartsextakkord der Kadenz hineinzufahren.
Nun bin ich aus übergroßer Vorsicht, wie es scheint nach wirklich erfolgter Kadenz
nur zum Trugschluß gekommen, und anstatt Ihnen gutgemeinte Wünsche für
den Pariser Aufenthalt zu übermitteln wird es schicklicher sein, Sie in dem
zur Zeit sehr wenig anheimelnden Berlin zu bewillkommnen., und Ihnen
zu wünschen, daß die nicht zu zählenden atonalen Diskorde des täglichen
Lebens Im November 1923 war der Höhepunkt der Inflation erreicht; am 15. November 1923 wurde die Reichsmark eingeführt, welche die Inflation beendete. Zwar spielt Leichtentritt hier vermutlich vor allem auf die politische und wirtschaftliche Lage in der Weimarer Republik an, scheint aber mehr als nur metaphorisch die musikalischen Entwicklungen dabei mitzumeinen. Seine Einstellung gegenüber Neuer Musik in Deutschland und ihrer „strange yet fascinating atmosphere“ speziell in Berlin (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 387) war jedoch alles andere als rundweg ablehnend (vgl. Leichtentritt 1924). Ihrem modern geschulten Ohr als ein wennschon nicht liebliches, so doch
merkwürdiges und neuartiges Klanggebilde (zwar ein schwacher Trost) erscheinen
mögen. Nachdem das große europäische Konzert“ bankrott gemacht hat, Mit dem europäischen Konzert“ sind vermutlich, neben der Inflation in der Weimarer Republik, der Versailler Vertrag und seine Folgen gemeint; so war es etwa, da deutsche Sachlieferungen nicht erfolgten, am 9. Januar 1923 zur Ruhrbesetzung durch französische Truppen gekommen.
das große Orchester des öffentlichen Lebens in Deutschland mit üblen, schreienden
Instrumenten besetzt, von schlechten Dirigenten in falschem Tempo geleitet eine
jammervolle Musik vollführt, so bleibt uns einzelnen zunächst nur übrig, uns
auf die Kammermusik des engsten familiären Kreises zurückzuziehen, und dort
auf ein innerlich und äußerlich sauberes und gewissenhaftes Musizieren peinlich
bedacht zu sein. Wenn ich bei dieser Kammermusik in Ihrem kleinen Ensemble
gelegentlich bei der zweiten Geige oder Bratsche aushelfen kann, werde ich
mich glücklich schätzen. Noch schlimmer, oder eigentlich wirklich schlimm wird
es erst dann, wenn wir auch im gänzlich unbegleiteten Solo den rechten
Ton nicht mehr finden. Dann allerdings dürfte es Zeit sein gänzlich ein⸗
zupacken, oder die Instrumente zu zerschlagen. Der Himmel behüte uns davor!

Ihre Schilderung von Paris zeigt mir, daß der Zauber des alten Paris Leichtentritt hatte 1894 nach Abschluss seines Studiums in Harvard fünf Monate in Paris verbracht (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 95). wie
immer unwiderstehlich ist, der Zauber des neuen Paris aber schon etwas an den
„faulen Zauber“ gegrenzt, und eigentlich mehr den materiellen, als den spirituellen
Bedürfnissen Genüge leistet. In der Hoffnung, Sie bald wieder etwas

Berlin, den 18. November 1923. Über das hier verwendete personalisierte Briefpapier mit Amsterdamer Adressvordruck verfügte Leichtentritt noch von seiner Einladung zum Mahler-Fest anlässlich des 25. Jubiläums von Willem Mengelberg beim Concertgebouw-Orchester (6.–21. Mai 1920); vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 360 f.

Lieber und verehrter Meister und Freund!

Seit vier Wochen ungefähr höre ich ohne Variationen die nämliche Melodie, dass Sie unmittelbar vor Ihrer Rückkehr nach Berlin sind. Busoni war mit seiner Frau Gerda zu Erholungszwecken für sechs Wochen nach Paris gereist, hatte aber auch dort viel für eine anstehende Konzertreise in Finnland geübt (vgl. Stuckenschmidt 1967, S. 52). Jeden dritten Tag fürchtete ich, mit einem etwaigen Brief nach Paris zu spät zu kommen. Ich hätte aber doch riskieren sollen, in den Quartsextakkord der Kadenz hineinzufahren. Nun bin ich aus übergroßer Vorsicht, wie es scheint, nach wirklich erfolgter Kadenz nur zum Trugschluss gekommen, und anstatt Ihnen gut gemeinte Wünsche für den Pariser Aufenthalt zu übermitteln, wird es schicklicher sein, Sie in dem zur Zeit sehr wenig anheimelnden Berlin zu bewillkommnen und Ihnen zu wünschen, dass die nicht zu zählenden atonalen Diskorde des täglichen Lebens Im November 1923 war der Höhepunkt der Inflation erreicht; am 15. November 1923 wurde die Reichsmark eingeführt, welche die Inflation beendete. Zwar spielt Leichtentritt hier vermutlich vor allem auf die politische und wirtschaftliche Lage in der Weimarer Republik an, scheint aber mehr als nur metaphorisch die musikalischen Entwicklungen dabei mitzumeinen. Seine Einstellung gegenüber Neuer Musik in Deutschland und ihrer „strange yet fascinating atmosphere“ speziell in Berlin (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 387) war jedoch alles andere als rundweg ablehnend (vgl. Leichtentritt 1924). Ihrem modern geschulten Ohr als ein wennschon nicht liebliches, so doch merkwürdiges und neuartiges Klanggebilde (zwar ein schwacher Trost) erscheinen mögen. Nachdem das große europäische Konzert“ bankrott gemacht hat, Mit dem europäischen Konzert“ sind vermutlich, neben der Inflation in der Weimarer Republik, der Versailler Vertrag und seine Folgen gemeint; so war es etwa, da deutsche Sachlieferungen nicht erfolgten, am 9. Januar 1923 zur Ruhrbesetzung durch französische Truppen gekommen. das große Orchester des öffentlichen Lebens in Deutschland mit üblen, schreienden Instrumenten besetzt, von schlechten Dirigenten in falschem Tempo geleitet eine jammervolle Musik vollführt, so bleibt uns einzelnen zunächst nur übrig, uns auf die Kammermusik des engsten familiären Kreises zurückzuziehen und dort auf ein innerlich und äußerlich sauberes und gewissenhaftes Musizieren peinlich bedacht zu sein. Wenn ich bei dieser Kammermusik in Ihrem kleinen Ensemble gelegentlich bei der zweiten Geige oder Bratsche aushelfen kann, werde ich mich glücklich schätzen. Noch schlimmer, oder eigentlich wirklich schlimm wird es erst dann, wenn wir auch im gänzlich unbegleiteten Solo den rechten Ton nicht mehr finden. Dann allerdings dürfte es Zeit sein, gänzlich einzupacken, oder die Instrumente zu zerschlagen. Der Himmel behüte uns davor!

Ihre Schilderung von Paris zeigt mir, dass der Zauber des alten Paris Leichtentritt hatte 1894 nach Abschluss seines Studiums in Harvard fünf Monate in Paris verbracht (vgl. Leichtentritt/DeVoto 2014, S. 95). wie immer unwiderstehlich ist, der Zauber des neuen Paris aber schon etwas an den „faulen Zauber“ grenzt und eigentlich mehr den materiellen als den spirituellen Bedürfnissen Genüge leistet. In der Hoffnung, Sie bald wieder etwas erfrischt von der Pariser Muße wiederzusehen, begrüße ich Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin mit den herzlichsten Willkommensgrüßen

als Ihr treu ergebener

H. Leichtentritt.

                                                                
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etwas erfrischt von der Pariser Muße wiederzusehen begrüße ich
Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin mit den herzlichsten
Willkommensgrüßen

als Ihr treu ergebener

H. Leichtentritt.

Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
                                                                
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Berlin W
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Berlin W
18.11.23.8-9N
* 35 […] 1 char: illegible.
Berlin W
18.11.23.8-9N
* 35 […] 1 char: illegible.
Berlin W
18.11.23.8-9N
* 35 […] 1 char: illegible.
Herrn
Dr. F. Busoni.
Deutsche
Staatsbibliothek
Berlin
Berlin W. 30

Victoria Luisen Pl. 11.
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4Facsimile
4Diplomatic transcription
4XML
Dr. H. Leichtentritt Berlin W. 57
Winterfeldt Str. 25a
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2772-Beil.
Mus.ep. H. Leichtentritt 15
Nachlaß Busoni B II
                                                                
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doneStatus: candidate XML Facsimile Download / Cite

Provenance
Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2772 | olim: Mus.ep. H. Leichtentritt 15 (Busoni-Nachl. B II) |

proof Kalliope

Condition
Der Brief ist gut erhalten.
Extent
1 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hands/Stamps
  • Hand des Absenders Hugo Leichtentritt, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift.
  • Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat.
  • Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat
  • Bibliotheksstempel (rote Tinte)
  • Poststempel (schwarze Tinte)
  • Unbekannte Hand, die das Absendedatum auf der Umschlagsrückseite notiert hat.

Summary
Leichtentritt begrüßt Busoni in Berlin nach dessen Rückkehr aus Paris; äußert sich metaphorisch über die schwierige wirtschaftliche und politische Lage der Weimarer Republik.
Incipit
Seit vier Wochen ungefähr höre ich

Editors in charge
Christian Schaper Ullrich Scheideler
prepared by
Revision
November 14, 2020: candidate (coding checked, proofread)
Direct context
Preceding
Near in this edition