Ferruccio Busoni an Hans Huber arrow_backarrow_forward

Zürich · 15. Oktober 1915

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6.
15 O 1915
Rigistrasse 42
(von Montag 18. Oktober 1915. ab.)

Verehrtester Meister,

zum 100. Geburtstag Liszt’s (1911)
gab ich, in Berlin, 6 Abende mit 80
Stücken dieses Componisten, um einmal
sein Clavierschaffen in Resumé Frz. „en résumé“: in Zusammenfassung, kurz gefasst, insgesamt. darzulegen.

Es wird mir schwer, aus dieser Fülle,
ein einziges Programm zu kondensieren,
wie es für unseren Zyklus geplant
ist. – Darum möchte ich, daß Sie
mir in der Wahl, mit Ihrendurch die Äusserung Ihrer Wünsche
beistünden. – Mir schiene es – in
Ihrem Lande – angebracht, die Serie
La Suisse (welche 9 Stücke umfasst)
vollständig zu bringen; aber sie liesse für
alles Andere, wenig Raum übrig.
Andererseits enthält dieses Werk Einiges
vom Schönsten: Chapelle de Guillaume Tell,
Vallée d’Obermann, Le mal du pays
Wenn dazu die Sonate käme, so
wäre das Maas beinahe voll, und man
könnte mit den beiden Legenden schließen.

6.
Zürich, 15 O 1915
Rigistrasse 42
(von Montag 18. Oktober 1915. ab.)

Verehrtester Meister,

zum 100. Geburtstag Liszts (1911) gab ich, in Berlin, sechs Abende mit 80 Stücken dieses Komponisten, um einmal sein Klavierschaffen in Résumé Frz. „en résumé“: in Zusammenfassung, kurz gefasst, insgesamt. darzulegen.

Es wird mir schwer, aus dieser Fülle ein einziges Programm zu kondensieren, wie es für unseren Zyklus geplant ist. – Darum möchte ich, dass Sie mir in der Wahl durch die Äußerung Ihrer Wünsche beistünden. – Mir schiene es – in Ihrem Lande – angebracht, die Serie La Suisse (welche neun Stücke umfasst) vollständig zu bringen; aber sie ließe für alles andere wenig Raum übrig. Andererseits enthält dieses Werk einiges vom Schönsten: Chapelle de Guillaume Tell, Vallée d’Obermann, Le mal du pays … Wenn dazu die Sonate käme, so wäre das Maß beinahe voll, und man könnte mit den beiden Legenden schließen.

Wie vieles muss unberücksichtigt bleiben! Die Etüden, die Rhapsodien, die italienischen Transkriptionen, – Italie und der wundersame dritte Band der Années de pèlerinage. – Man könnte, mit ebensolchem Rechte, das Nämliche um Beethoven bedauern; aber hier gilt es nicht, ihn (sozusagen) erst bekannt zu machen, wie es bei Liszt noch immer eine imperative Aufgabe verblieben ist! – Wer kennt die Rhapsodien 16–19? Die „Valses oubliées“? den Weihnachtsbaum? Gewiss Sie, und einige regsamere Pianisten; nicht aber das Publikum, kaum die Musikalienhändler. – Also erbitte ich Ihre Ansicht.

Es war mir eine reine Freude, Sie wiederzusehen und zu sprechen, Ihren Anregungen zu lauschen! Dieser „Prometheus“ Spittelers macht mir aber große Mühe. Ich habe ihn noch nicht erfasst. Auf den ersten Blick hielt ich ihn für „den Schatten Zarathustras.“ – Das Tempo ist immer Andante sostenuto. – Aber vielleicht bin ich noch nicht so weit. – In herzlicher Verehrung

Ihr sehr ergebener

F. Busoni

                                                                
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Wie vieles muss unberücksichtigt
bleiben! Die Etüden, die Rhapsodien,
die italienischen Transcriptionen, –
Italie und der wundersame dritte
Band der Années de Pélerinage. –
Man könnte, mit ebensolchem Rechte,
das nämliche um Beethoven bedauern;
aber hier gilt es nicht, ihn (sozusagen)
erst bekannt zu machen, wie es bei
Liszt noch immer eine imperative
Aufgabe verblieben ist! – Wer kennt
die Rhapsodien 16–19? Die
„Valses oubliées“? den Weihnachts-
baum
? Gewiss Sie, und einige
regsamere Pianisten; nicht aber Briefe Stauffer Transkription unsicher: Tintenklecks.
das Publikum, kaum die
Musikalienhaendler. – Also
erbitte ich Ihre Ansicht.

Es war mir eine reine Freude,
Sie wiederzusehen u. zu sprechen,
Ihren Anregungen zu lauschen!
Dieser “Prometheus” Spitteler’s
macht mir aber grosse Mühe. Ich
habe ihn noch nicht erfasst. Auf den ersten
Blick hielt ich ihn für “den Schatten
Zarathustra’s.”
– Das Tempo ist immer
Andante Sostenuto. – Aber vielleicht bin ich
noch nicht so weit. – In herzlicher Verehrung

Ihr sehr ergebener

F. Busoni
                                                                
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Dokument

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Überlieferung
Schweiz | Basel | Universitätsbibliothek | NL 30 : 22:A-H:16
Zustand
Der Brief ist gut erhalten.
Umfang
1 Blatt, 2 beschriebene Seiten
Hände/Stempel
  • Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in blau-schwarzer Tinte, in deutscher Schreibschrift.
  • Vmtl. Hand des Archivars, der eine Nummerierung mit Bleistift vorgenommen hat.
  • Vmtl. Hand des Empfängers Hans Huber, der auf der Rückseite am linken Rand eine Notiz mit Bleistift vorgenommen hat.

Zusammenfassung
Busoni unterbreitet Programmvorschläge für den Liszt-Klavierabend, erbittet Hubers Mithilfe; berichtet von seiner Spitteler-Lektüre.
Incipit
zum 100. Geburtstag Liszts (1911)

Inhaltlich Verantwortliche
Christian Schaper Ullrich Scheideler
bearbeitet von
Stand
26. April 2017: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
Stellung in diesem Briefwechsel
Vorausgehend Folgend
Benachbart in der Gesamtedition
Frühere Ausgaben
Refardt 1939, S. 8 f.