L Ph J es müsste heute der 7. Okt.
sein, am Tage nach dem
Empfange Ihres lieben Briefes
für den ich Ihnen danke. Mir ging es
von Tag zu Tag zusehends besser, bis
ich mir vorgestern, bei einem he[…]
ftigen
Umschlagen des Wetters, einen Schnupfen
holte. – Der Kopf beginnt sich zu verdicken
u. meine Nase sich aufzuweichen; wie
die Quelle, die aus dem harten Gestein
fliesst. – Ich muss heute auf das Strassen-
schlendern verzichten: ein Vergnügen,
das dem Spaziergänger durch das ewige
Aufpassen auf die Automobile stark
beeinträchtigt wird. Es gibt deren etwa
300.000 u. sie sind alle in Bewegung.
Von Berlin erhalte ich mehrere
pessimistische Berichte, und ich
kenne einen Theil der Übelstaende
aus persönlicher Bekanntschaft. –
Sie geben sie alle zu, mit Ausnahme
der „Hindemithe“ die sie ehrenhaft
vertheidigen. – Ich bin mir bewusst
dass ich bei meinem Urtheil „das Kind
mit dem Bade ausschütte“; aber
mit Zugestaendnissen – so habe ich
erfahren – verliert die Behauptung
im Gewicht. Nur schroff hingestellt
[…]
übt sie Eindruck aus, wie
das eben bei Ihnen der Fall wurde.
Aber verwahren muss ich mich
dagegen, dass Sie von einer
Einstellung bei mir sprechen, aus
deren Winkel ich die Sachen sehe.
Ferruccio Busoni an Philipp Jarnach arrow_backarrow_forward
Paris · 7. Oktober 1923
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N.Mus.Nachl. 30,80 1
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L Ph J es müsste heute der 7. Oktober sein, am Tage nach dem Empfange Ihres lieben Briefes, für den ich Ihnen danke. Mir ging es von Tag zu Tag zusehends besser, bis ich mir vorgestern, bei einem heftigen Umschlagen des Wetters, einen Schnupfen holte. – Der Kopf beginnt sich zu verdicken und meine Nase sich aufzuweichen; wie die Quelle, die aus dem harten Gestein fließt. – Ich muss heute auf das Straßenschlendern verzichten: ein Vergnügen, das dem Spaziergänger durch das ewige Aufpassen auf die Automobile stark beeinträchtigt wird. Es gibt deren etwa 300.000, und sie sind alle in Bewegung. Von Berlin erhalte ich mehrere pessimistische Berichte, und ich kenne einen Teil der Übelstände aus persönlicher Bekanntschaft. – Sie geben sie alle zu, mit Ausnahme der „Hindemithe“, die sie ehrenhaft verteidigen. – Ich bin mir bewusst, dass ich bei meinem Urteil „das Kind mit dem Bade ausschütte“; aber mit Zugeständnissen – so habe ich erfahren – verliert die Behauptung im Gewicht. Nur schroff hingestellt übt sie Eindruck aus, wie das eben bei Ihnen der Fall wurde. Aber verwahren muss ich mich dagegen, dass Sie von einer Einstellung bei mir sprechen, aus deren Winkel ich die Sachen sehe. Einstellung wäre Parteinahme, Spezialisierung oder Eigensinn. Aber auch diese vermöchte nicht die „Umwelt zu einem Trümmerhaufen zu machen“, da ich sie bereits als solchen vorfinde. Es gibt ja doch kein einziges vollkommenes Beispiel in der Tonkunst. Darum kann man nur das anerkennen, das das Vorhandene überholt oder neue fruchtbare Versuche bringt; oder das Bestreben verrät, eines dieser beiden Ziele zu verfolgen. – Talent spreche ich ihrem Schützling ohne Weiteres zu; aber dieses ist erst die Grundbedingung dafür, dass man Künstler werde. Wieder komme ich mit Mozart, der bekanntlich sich die härtesten Sorgen um die Lösung jeder Frage machte und wahrhaftig nicht weniger begabt gewesen ist als unser musikfreudiger Kollege; der komponiert mit derselben Selbstverständlichkeit, wie ein Hund bellt und ein Hahn kräht. Und das nennen Sie „Einstellung“! Was ich bedauere, ist das Wesen, das man um den komponierenden Bratschisten macht; und das ihn in dem Glauben an seine erreichte Meisterschaft bekräftigt: womit ich eigentlich es besser mit ihm meine als seine Anstauner. —
Ein Frauentanz von Weill ist mir unbekannt. Die Produktivität dieses Jungen ist überraschend, bei seiner spröden Ader und der umständlichen Arbeit. Die „Einfälle“ sind – wie Sie sagen – häufig, aber versteckt und angedeutet, so dass nur „Unsereiner“ sie entdeckt und bewundert. Er – Weill – scheint sich nicht bewusst zu sein, wenn er an der rechten Stelle ist; sondern schreitet über sie hinweg, wie über Sand und Gestein, wozwischen hübsche und eigenartige Blüten sprießen, die er nicht zertritt, aber auch nicht pflückt, bei denen er nicht verweilt. Sein Reichtum ist groß, seine Wahl vorläufig unaktiv. Man beneidet, und möchte helfen. – Aber er kommt von selbst auf das Richtige! – Die ewige Frage: Ist er noch im Werden, oder schon bei seinem Höhepunkt? —
Der Größte ist „im Werden“ bis zu seinem Tode, und er lässt noch unerfüllte Erwartungen zurück. Die „Arrivés“ sind zu bedauern, und man frägt sich verzweifelt, ob man nicht zu ihnen gehört … So endet, ohne Schluss, dieser Brief, der Ihnen und Frau Barbara die freundschaftlichsten Grüße meldet. |
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Einstellung waere Partheinahme,
Spezialisierung oder Eigensinn. Aber auch diese vermöchte nicht die „Umwelt zu einem Trümmer- haufen zu machen“, da ich sie bereits als solchen vorfinde. Es gibt ja doch kein einziges vollkommenes Beispiel in der Tonkunst. Darum kann ^ man nur das anerkennen, das das Vorhandene überholt, oder neue Versuche bringt; verräth, eines dieser beiden Ziele zu verfolgen. – Talent spreche ich ihrem Schützling ohne Weiteres zu; aber dieses ist erst die Grund- -bedingung dafür, dass man Künstler werde. Wieder komme ich mit Mozart, der bekanntlich sich die haertesten Sorgen um die Lösung jeder Frage machte, und wahrhaftig nicht weniger begabt gewesen ist, als unser musikfreudiger Kollege; der kom- poniert mit derselben Selbstverstaend- lichkeit, wie ein Hund bellt und ein Hahn kräht. Und das nennen Sie „Einstellung“! Was ich bedauere, ist das Wesen, um den komponierenden Bratschisten macht; und das ihn in dem Glauben an seine erreichte Meisterschaft bekräftigt: womit ich eigentlich es besser mit ihm meine, als seine Anstauner. — |
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Ein Frauentanz von Weill ist mir
Der Groesste ist “im Werden”
So endet, ohne Schluss,
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Dokument
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Quelle
- Überlieferung
- Deutschland | Berlin | Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz | Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv | Nachlass Ferruccio Busoni | N.Mus.Nachl. 30,80 |
- Zustand
- Der Brief ist gut erhalten.
- Umfang
- 3 Blatt, 3 beschriebene Seiten
- Kollation
- Nur die Vorderseiten sind beschrieben.
- Hände/Stempel
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- Hand des Absenders Ferruccio Busoni, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift
- Hand des Archivars, der mit Bleistift die Signaturen eingetragen, eine Foliierung vorgenommen und das Briefdatum ergänzt hat
- Bibliotheksstempel (rote Tinte)
Inhalt
- Zusammenfassung
- Busoni ist verschnupft; beklagt den Pariser Autoverkehr; erwidert auf Jarnachs Verteidigung Paul Hindemiths; äußert sich zur Natur von Hindemiths Talent und von Kurt Weills Komponieren; fordert nicht Perfektion, sondern dass man „das Vorhandene überholt oder neue fruchtbare Versuche bringt“.
- Incipit
- „es müsste heute der 7. Oktober sein“
Edition
- Inhaltlich Verantwortliche
- Christian Schaper Ullrich Scheideler
- bearbeitet von
- Stand
- 17. August 2021: zur Freigabe vorgeschlagen (Auszeichnungen überprüft, korrekturgelesen)
- Stellung in diesem Briefwechsel
- Vorausgehend Folgend
- Benachbart in der Gesamtedition
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Vorausgehend Folgend
- Frühere Ausgaben
- Beaumont 1987, S. 372 f.
Erwähnte Entitäten
- Personen
- Werke
- Orte